26.06.2023
Der China-Experte Prof. Dr. Thomas Heberer (Institut für Ostasienwissenschaft, UDE) analysiert seit Jahrzehnten die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Volksrepublik. Seit Mitte der 1970er Jahre war er dazu jährlich vor Ort. Die Pandemie hat diese regelmäßigen Forschungsreisen und Besuche des Ostasienwissenschaftlers der Universität Duisburg-Essen jäh unterbrochen. Gerade aus China zurückgekehrt, berichtete Thomas Heberer von konkreten Eindrücken seiner ersten Reise nach über drei Jahren. In seinem Vortrag „China nach der Pandemie“ am Konfuzius-Institut Metropole Ruhr beleuchtete er verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Wandels. Rund 40 Gäste waren gekommen, um sich im Vortrag ein Bild zu machen und sich zum Thema auszutauschen.
Wie auch bei uns, habe die Pandemie in einigen Bereichen wie ein Katalysator gewirkt, schilderte Thomas Heberer. Das Einkaufsverhalten der Menschen habe sich schneller verändert: Kaufhäuser und Shopping Malls seien menschenleer, eingekauft würde vor allem online. Auch der Dienstleistungssektor sei sehr stark digitalisiert. Als beeindruckendes Beispiel schilderte er, dass man während einer Bahnreise problemlos von unterwegs aus Essen an einen Zwischenhalt bestellen könne und die Lieferung dann direkt an den Wagon erfolge. Möglich sei das auch, weil Züge und Flüge durchweg pünktlich seien.
Direkt ins Auge fielen zahlreiche Veränderungen im alltäglichen Leben. Bargeld sei weitgehend verschwunden und westliche Kreditkarten seien kaum noch nutzbar. Stattdessen würden die meisten Zahlungen über Alipay und WeChat abgewickelt.
China scheine sich über die Pandemiezeit verstärkt nach innen orientiert zu haben. Das macht Thomas Heberer zum Beispiel daran fest, dass all diejenigen, die nicht über eine chinesische ID/Ausweis und Telefonnummer verfügten, schwerer Zugang zu Internet, Bahnhöfen und Flughäfen bekämen. Gerade internationale Besucher und Besucherinnen stelle dies vor besondere Herausforderungen, insbesondere wenn sie ohne Sprachkenntnisse reisten. Insgesamt scheine es, als seien deutlich weniger ausländische Geschäftsleute, Expert:innen und Studierende in China. Der Tourismus floriere wieder, jedoch hauptsächlich durch inländische Reisende.
Für die wissenschaftliche Feldforschung von Politolog:innen und Soziolog:innen sind Beobachtungen auf der lokalen Ebene sehr wichtig. Laut Thomas Heberers Einschätzung ist das aktuell in China schwer möglich, auch für chinesische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Lokalregierungen und andere Institutionen seien Forschenden gegenüber verschlossen, da sie nicht in Misskredit gebracht werden möchten. Gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs stelle dies eine Herausforderung dar, da es schwierig sei, Wissen außerhalb der Mainstream-Quellen zu erlangen.
Die wirtschaftliche Situation sei ebenfalls angespannter als in den Vorjahren. Sowohl für den Staat als auch die Privatwirtschaft seien die Zeiten deutlich härter geworden. Auf lokaler Ebene kämpften die Städte, Kreise und Gemeinden mit hoher Verschuldung. In den letzten Jahrzehnten hätten diese sich maßgeblich über die Entwicklung von Immobilienprojekte finanziert. Diese Einnahmenquelle versiegt nach und nach und auch die private Nachfrage nach Wohnungen und Luxusgütern sei stark gesunken. Außerdem seien die staatlichen Ebenen in der Pandemiezeit mit hohen Ausgaben im Gesundheitswesen belastet gewesen.
Eine große Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt sei die Jugendarbeitslosigkeit. Während der Pandemie seien rund acht Millionen Wanderarbeiter und -arbeiterinnen in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Viele Unternehmen bauten Stellen ab, vor allem im IT-Sektor, Online-Handel und Dienstleistungsbereich, was häufig junge Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen beträfe. Dies habe zu rund 24 Millionen Arbeitslosen geführt. Unter jungen Menschen habe sich das tangping – Flachliegen-Phänomen entwickelt. Gerade gut ausgebildete junge Menschen verlören gewissermaßen den Mut und das Interesse, weil sie sich komplett chancenlos fühlten. Nicht selten flüchteten sie sich in virtuelle Online-Welten.
Abgerundet wurde die Veranstaltung wie gewohnt mit einer offenen Diskussionsrunde. Hier brachte sich das Publikum mit Fragen an den Referenten ein. Gastgeberin Susanne Löhr, Geschäftsführerin des Konfuzius-Instituts, führte durch den Abend.